Samstag, 11. Juli 2009

Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge


Titel eines Führeres von 1899, Sammlung Nagel 


1922 wurde Castans Panoptikum, seinerzeit eines der renommiertesten Wachsfigurenkabinette, geschlossen und die Exponate versteigert. Bieter der Figuren und Reliquien – „alles notariell beglaubigt“ - waren Antiquitätenhändler, Theaterausstatter, Liebhaber und nicht zuletzt Schaubudenbesitzer. Manch reisendes Panoptikum wird durch Castans Ende beträchtliche Aufwertung erfahren haben…
Paul Schlesinger schilderte in der Vossischen Zeitung vom 20.2.1922 seine Eindrücke von einem letzten Besuch am Vorabend der Versteigerung. Die Abschiedsvisite wird zu einem Trip in Erfahrungswelt der eigenen Kindheit:
Abschiedsvisite bei Castan
Nur auf diesem Wege anstandshalber die Mitteilung, dass ich Dir, lieber Castan, heute einen heimlichen Abschiedsbesuch gemacht habe. Mittwoch wird dein Panoptikum versteigert. Einmal wollte ich noch sehen, was eigentlich bei Dir los war.
Die Heimlichkeit war nicht sehr freiwillig. Ich ging rasch in den großen Restaurationssaal, in dem von Tischen, Stühlen, Waffen, Bildern ein ziemliches Durcheinander herrschte. Einen einsamen Herrn sah ich bei einem halben Glase Bier sitzen. Ich ging nur zwei Schritte auf ihn zu – dann erkannte ich: das ist immer noch der gleiche Herr aus Wachs, der seit meiner Kindheit Tagen an dem Tische saß und von so vielen Provinzlern angesprochen wurde: wieviel Uhr es denn sei – oder so. Das Widersehen mit mir ging nicht ohne Erschütterung vor sich. Damals war der einsame Herr viel älter als ich. Heut, nach mehr als 30 Jahren, bin ich etwas älter als er – oder viel viel älter.
(…) Auf der Treppe las ich die Worte: ´Zur Schreckenskammer`. Schon zwängte sich aus vergittertem Fenster ein Sträfling zur Flucht. Mein Herz stand still. An die Schreckenskammer hatte ich nicht gedacht. Nichts hatte ich als Kind mehr gefürchtet als diese Treppe, und nie hatte ich sie betreten. Und jetzt wollte ich so einfach weil die Herren gerade oben seien – so geschäftsmäßig kühl da hinaufgehen? Ich musste mich zusammennehmen. Ich stieg hinauf, ich trat ein. Die Herren waren gar nicht da, aber etwas anderes, Fürchterliches stürzte auf mich. Das entsetzliche schweigsame Alleinsein mit 50 wächsernen Mördern und Mörderinnen. Sie standen herum, ihre abgeschlagenen Häupter hingen an den Wänden. Folterinstrumente, Beile, schreiende Menschen, gemartert von der erfinderischen Justiz aller Jahrhunderte – und ich allein, wieder das gequälte Kind, das unten an der Treppe wartete, während die älteren Geschwister so ruhig hinaufgegangen waren – fort, nur fort.
Ich stolperte die Treppe hinunter. Erst vor Dornröschen beruhigte ich mich. Nun bewegte der Elektromotor nicht mehr ihren Busen, der früher so regelmäßig auf und nieder ging. Dann kam ich zu den Riesen, deren Namen ich früher so genau kannte, und die ich nun alle vergessen habe. Und daneben stand immer noch Herr Ulpts, der Zwerg, den ich doch lebendig gekannt hatte. Damals, als ich ein Kind war, gab’s noch Zwerge. Ich trete an einen vergitterten Balkon, und ich sehe hinab in den berühmten Kaisersaal, in dieses feierlich tote Gewimmel von wächsernen Gestalten! War hier nicht einst die Kaiserproklamation nachgebildet? Die beiden Gardes-du-Corps in rotem Wams stehen immer noch zu Füßen des Podiums. Aber dann, das weiß ich auch noch, stand Wilhelm II. vor dem Thronsessel. Er ist nicht mehr da; an seiner Stelle sitzt, grausig puppenhaft von Hermelin umflossen, Friedrich der Große, König von Preußen – den letzten hat der erste abgelöst. Links von ihm erkenne ich eine feldgraue Gruppe: Hindenburg und Ludendorff.
Mir ist, als hätte wer geseufzt. Ich blicke auf: Dort drüben ist noch ein Balkon, über ihn lehnt sich eine dunkle, schlanke Dame. Hat sie geseufzt? Aber nein, sie ist ja aus Wachs und wartet nur, dass sie unter den Hammer kommt.
Es zieht mich hinunter in den Saal der prunkenden Uniformen. Bismarck, Moltke, Prinz Friedrich Karl – sie haben ihre stolze, ablehnende Haltung mir gegenüber seit 30 Jahren bewahrt. Da Kaiser Friedrich, daneben an der Wand doch noch Wilhelm II. Kein Lüftchen bewegt seinen Federbusch. Welch wächserne, gläserne Oede in dieser Fürstengruft! Eine Bewegung, eine einzige, und es müsste klirren von Orden, Ketten, Waffen. Nichts. Nur ich – lebe. Eigentlich sind sie alle wehrlos, auch Sie, Herr Poincaré, mit dem Ordensband, und ihre britische Majestät…
Und Goethe, Schiller, Wagner, Rubinstein – musste das sein? Hat das sein müssen, lieber Castan? Da steht auch Ebert neben Scheidemann.Weiß Gott, niemals war ich so überzeugt vom Vorzug der Unberühmtheit.
Da –ich lache hell auf! Ihr seid noch alle da, ihr geliebten Vexierspiegel? Wer kann das widerstehen? Ich will ganz allein über mich lachen. Ich mache mich ganz dick und ich zerfließe in die Breite. Ich schneide eine Grimasse – ha, mein Mund reicht von Paris nach Petersburg. Und nun ganz dünn. Ich will doch probieren, ob ich so aussehen kann, wie ich eigentlich aussehen möchte – so ist es gut. So ungefähr. Das sit mein seelisches Format. Wnn ich mich so photographieren lassen könnte … ich dreh’ mich nur halb – was ist das? Mein Bauch ist gewölbt, geschwollen, ein Ballon – ich lache laut – mich erschreckt mein eigenes Lachen.
Fort – hinaus. Adjö, lieber Castan. Hinaus auf die graue, trübe Friedrichstraße. Sie ist verwahrlost, im Straßenschmutz liegen Bettler, an den Ecken schreien die Händler. Jawohl – wir haben den Krieg verloren; aber wir sind nicht aus Wachs, wir leben.
Zusammenfassend, lieber Castan: Als ich ein Kind war, hast Du mir wohl Spaß gemacht. Heute warst du ein schwerer, furchtbarer Traum. Und ich weiß nicht, welcher deiner Säle keine Schreckenskammer war. Und nun ziehe in Frieden. Ich weiß, deine Lebensarbeit ist nicht tot. Deine Puppen werden nicht zerschlagen, nur versteigert. Sie werden sich da oder dort auftun, und das Volk wird staunen, und die Kinder werden gaffen und sich fürchten. Aber ich bin von dir erlöst – für den Rest meiner Tage.“

Paul Schlesinger („Sling“): Abschiedvisite bei Castans. In Vossische Zeitung vom 20.2.1922, zit. n. Angelika Friederici: Castans Panopticum. Ein Medium wird besichtigt. Heft F1 – Castans Könige im Ramsch. Berlin 2008