Mittwoch, 17. November 2021

"Sie standen in schrecklichem Schweigen da ..."


Sammlung Nagel

Das 31. Kapitel der 1937 als Teil der Sammlung "Das Sanatorium zur Sanduhr" erschienenen Kurzgeschichte "Frühling" des Schriftstellers Bruno Schulz hat den Besuch in einem großen reisenden  Panoptikums zum Thema, das "sein Zelt auf dem Platz der heiligen Dreifaltigkeit aufschlug". Besonders beeindruckend ist u.a. die literarische Verarbeitung mechanisch bewegter Wachsfiguren. 
Es scheint denkbar, dass in der folgenden Passage Erinnerungen eines Besuchs des 15jährigen Bruno Schulz in Heinrich Trabers Panoptikum widerhallen, das 1913 in seiner galizischen Heimatstadt Drohobytsch gastierte.*

"Das Panoptikum war schon hell erleuchtet. In der scheuen und eiligen Dämmerung drängten sich die Menschen als dunkle Silhouetten, mit Regenschirmen bedeckt, im fahlen Licht des untergehenden Tages in dem beleuchteten Vorraum des Zeltes, wo sie achtungsvoll vor einer dekolletierten, bunten Dame mit blitzenden Kleinodien und einer Goldplombe in den Zähnen ihre Gebühr entrichteten - eine lebende Büste, geschnürt und bemalt, unten dagegen auf unbegreifliche Weise im Schatten samtener Vorhänge verschwindend.
Wir betraten durch die gelüftete Portiere einen hellerleuchteten Raum. Er war schon ziemlich bevölkert. Gruppen in regennassen Mänteln und mit aufgestellten Kragen schoben sich schweigend von Platz zu Platz und blieben endlich in gedrängten Halbkreisen stehen. Mitten unter ihnen bemerkte ich mühelos jene, die nur mehr scheinbar in diese Welt gehörten, in Wirklichkeit aber schon ein getrenntes, repräsentatives und einbalsamiertes Leben auf dem Piedestal führten, ein zur Schau gestelltes und feiertägliches Leben. Sie standen in schrecklichem Schweigen d, mit prächtigen, für sie nach Maß geschneiderten Gehröcken, Cuts und Jacken aus gutem Tuch bekleidet, sehr blass, mit den Fieberröten ihrer letzten Krankheiten, an denen sie gestorben waren, und ließen die Augen blitzen. In ihren Köpfen war schon längst kein Gedanke mehr, nur die Gewohnheit, sich von allen Seiten zu zeigen, die Gewohnheit zur Repräsentation ihres leeren Daseins, das sie mit letzter Anstrengung aufrechthielt. Sie sollten schon längst in kühle Leintücher gehüllt, mit geschlossenen Augen im Bett liegen und ihren Löffel Medizin eingenommen haben. Es war Unfug, sie noch so spät in der Nacht von ihren engen Postamenten und Sesseln hocken zu lassen, auf denen sie in ihrem engen lackierten Schuhwerk steif dasaßen, meilenweit von ihrer alten Existenz entfernt, mit blitzenden Augen und völlig erinnerungslos. 
Wie einem Erhängten die Zunge, so hing - schon tot - jedem sein letzter Schrei aus dem Mund, seit sie das Irrenhaus verlassen hatten, wo sie eine gewisse Zeit wie im Fegefeuer verbrachten. da sie als Wahnsinnige galten, ehe sie die endgültige Schwelle überschritten. Ja, es waren tatsächlich keine authentischen Dreyfuse, Edisone und Lucchenis, es waren vielleicht tatsächlich Wahnsinnige, gerade in dem Augenblick in flagranti erwischt, da diese blendende fixe Idee in ihnen Wohnung nahm, im gleichen Moment, da ihr Wahnsinn nach einer Weile lautere Wahrheit war und - kunstvoll herauspräpariert - das Heft ihrer neuen Existenz wurde, zur Gänze auf diese Karte gesetzt und seitdem unverändert. Sie hatten schon seit damals diesen einen Gedanken im Kopf wie ein Ausrufezeichen und standen gleich diesem auf dem Kopf , auf einem Bein wie im Flug, mitten in der Bewegung aufgehalten. 
Ich suchte ihn mit den Augen in dieser Schar und ging unruhig von Gruppe zu Gruppe. Endlich fand ich ihn; keineswegs in der glänzenden Uniform eines Admirals des levantinischen Geschwaders, in der er auf dem Flaggschiff 'Le Cid' von Toulon in jenem Jahr ausgefahren war, als er den mexikanischen Thron besteigen wollte; auch nicht im grünen Frack eines Generals der Kavallerie, den er so gern in seinen letzten Tagen trug. Er war vielmehr mit einem gewöhnlichen Rock mit langen, faltenreichen Schößen und hellen langen Hosen bekleidet, ein hoher Kragen mit breiter Halsbinde stützte sein Kinn. Ehrfürchtig und erregt blieben wir beide - ich und Rudolf - vor ihm mitten in einer Gruppe von Menschen stehen, die ihn nach allen Seiten drehte. Da fuhr ich plötzlich bis ins Mark getroffen zusammen. Drei Schritte vor uns in der ersten Reihe der Zuschauer stand in einem weißen Kleidchen Bianka mit ihrer Gouvernante. Sie stand uns schaute. Ihr Gesichtlein war in den letzten Tagen blass und elend geworden, und ihre umringten und schattenvollen Augen schauten betrübt bis in den Tod. 
So stand sie regungslos, die verschlungenen Händchen in den Falten des Kleidchens versteckt, und blickte unter ihren ernsten Brauen mit bekümmerten Augen hervor. Das Herz presste sich mir bei diesem Anblick zusammen. Unwillkürlich folgte ich mit meinen Augen ihren todtraurigen Blicken nach - und was sah ich? Sein Antlitz bewegte wie soeben aus dem Schlaf erwacht, die Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, die Augen funkelten und begannen sich in den Höhlen zu drehen, und die ordensblitzende Brust wölbte und senkte sich atmend. Es war kein Wunder, sondern ein gewöhnlicher mechanischer Trick. Entsprechend aufgezogen hielt der Erzherzog nach mechanischen Prinzipien kunstvoll und zeremoniell Cercle, wie er es zu Lebzeiten gewohnt war. Er wandte den Blick der Reihe nach den Anwesenden zu und ließ ihn ein Weilchen auf jedem ruhen. 
So begegneten sich in einem bestimmten Moment ihre Blicke. Er fuhr zusammen, zögerte, schluckte den Speichel, als wollte er etwas sagen, doch nach einem Augenblick schon lief er - gehorsam seinem Mechanismus - mit dem Blick weiter und ließ ihn mit dem gleichen ermutigenden, versprechenden und strahlenden Lächeln über die anderen gleiten. Hatte er Biankas Anwesenheit zur Kenntnis genommen, war sie in sein Herz vorgedrungen? Wer konnte es wissen? Er war doch nicht einmal der vollen Bedeutung dieses Wortes er selber, sondern viel eher sein eigener entfernter Doppelgänger in einem sehr reduzierten und hochgradig entkräfteten Zustand. Doch vom Standpunkt der Tatsachen aus musste angenommen werden, dass er dennoch irgendwie sein nächster Agnat war, vielleicht sogar er selber in dem Grad, wie es bei diesem Stand der Dinge eben gerade noch möglich war, so viele Jahre nach seinem Tod. Es war bestimmt schwierig, in dieser wächsernen Auferstehung von den Toten gründlich in sich selber einzudringen. Unwillkürlich musste sich bei dieser Gelegenheit etwas Neues und Drohendes in sein Inneres einschleichen, musste sich etwas Fremdes aus dem Wahn dieses genialen Irren beimischen, das ihn unbezweifelbar in seiner Megalomanie bestärkte und Bianka mit Schrecken und Bestürzung erfüllen musste. Zieht sich doch bereits ein Schwerkranker zurück und entfernt sich von dem ehemals Gewesenen - um wieviel mehr ein so ungeziemend von den Toten Auferstandener! Wie verhielt er sich zum Beispiel nur jetzt gegen sein eigenes Blut? Voll künstlicher Fröhlichkeit und Bravour spielte er seine kaiserliche Narrenkomödie, lächelnd und glänzend. Oder musste er sich so arg verstellen oder fürchtete er so arg die Aufseher, die ihn von überall beobachteten, den im gleichen Wachsfigurenspital zur Schau gestellten, wo sie alle unter der Drohung der Spitalzucht lebten. Oder musste der mühsam aus irgendwessen Irrsinn Herausdestillierte, chemisch Reine, Ausgeheilte und schließlich dem Tode Entronnene nicht lange halten, weil man ihn wieder in die Auflösung und in das Chaos zurückstoßen konnte?
Als mein Blick von neuem Bianka suchte, gewahrte ich, dass sie ihr Gesicht im Taschentuch barg. Die Gouvernante drehte sie an der Schulter weg, wobei sie leer mit ihren emaillierten Augen blitzte. Ich konnte Biankas Schmerz nicht mehr länger nit ansehen, ich spürte, dass mich ein Weinkrampf packte, und zupfte daher Rudolf am Ärmel. Wir schritten dem Ausgang zu.
Hinter unserem Rücken schickte der geschminkte Vorfahre, dieser Großvater in der Blüte der Jahre, weiterhin seine strahlenden Monarchengrüße in die Runde, ja hob sogar in übertriebenem Eifer die Hand und warf uns beinahe Kusshändchen zu in dieser regungslosen Stille, beim Zischen der Azethylenlampen und inmitten des leisen Gemurmels des Regens auf den Zeltbahnen und stellte sich mit letzten Kräften auf die Zehenspitzen, obwohl er sterbenskrank war und wie alle seine Kollegen vor Todesangst zitterte." (Bruno Schulz: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, dt. München 1966)

* Entsprechende Hinweise verdanke ich Balbina Tarnowska und Jan Zielinski aus Danzig.