Freitag, 17. August 2012

Des sittlichen Anstandes halber verborgen


"Durchschnitt durch das weibliche Becken", Abbildung aus dem 
Führer eines "Extrakabinetts" um 1900, Sammlung Nagel

Mitunter kann auch erzählende Literatur zu wirklichkeitsnahen und aufschlussreichen Einblicken in ein Sujet verhelfen. So gibt Karl von Holtei in seinem 1851 erschienenen Roman „Die Vagabunden“ anerkanntermaßen ein sehr realistisches Bild von den verschiedenen Schaustellungen reisender Unterhaltungskünstler um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist auffällig, dass die typischen Schaubudenattraktionen, die für das letzte Drittel dieses Jahrhunderts in großer Zahl bezeugt sind, zum größten Teil auch schon in der ersten Jahrhunderthälfte existierten. In Bezug auf die gesonderten Abteilungen der Wachsfigurenkabinette, die i.d.R. zu dieser Zeit noch nicht auf Werbezetteln und in Anzeigen erwähnt werden, bilden literarische Zeugnisse wie Gottfried Kellers oben zitiertes Tagebuch oder Holteis Roman sogar zentrale Quellentexte:

Im 41. Kapitel geleitete das Geschick Anton bzw. Antoine, der Held des Romans, „an eine große, mit besonderer Sorgfalt konstruierte Bude, deren Anschlagzettel das große Wachsfigurenkabinett des Herrn Blämert verkündeten. An der geöffneten, reich verzierten Kasse, vor der ein wächserner Gardist schulterte, saß eine junge Dame (…). Sie lud ihn durch eine graziöse Bewegung des Kopfes ein, den Schauplatz zu besuchen und deutete, (…) mit der Hand auf den Vorhang, durch den er sich zu schieben habe. (…) 
Ich will mich gar nicht hinter meiner Kinderdummheit und deren törichte Furchtsamkeit verstecken; ich will vielmehr treuherzig eingestehen, daß ich mich auch noch als überreifer, vielerfahrener Mann fürchterlich gefürchtet habe, wenn ich mich zufällig (…) allein vor einer solchen Parade von Wachsfiguren befand. Fast kenne ich nichts Schauerlicheres, als eine Gesellschaft ausgeputzter Kadaver,; ich behaupte auch, daß es, ich weiß nicht warum, wie in einer Totenkammer riecht! Deshalb bin ich auch nicht berechtigt, meinem Helden sein Entsetzen übel zu nehmen. Es findet sich eine Zeile in seinem Tagebuche (…), - worin er ausspricht, daß er sich unbedenklich durch die Flucht gerettet haben würde, hätte er nicht die schöne, stumme Blondine an der Kasse gewusst und ihren Hohn gefürchtet. Er stählte sich folglich mit dem Mute der Furcht, welcher, obgleich nichts anderes als die Furcht vor der Furcht am gehörigen Orte Wunder zu wirken vermag. Er blieb; rückte den hohen und höchsten Herrschaften, die, mit berüchtigten Räubern, Dichtern, Delinquenten, Gelehrten, Kartenspielern, Trinkern, Giftmischern abwechselnd, hier zu Gruppen vereinigt, dort in ungeselliger Abgeschlossenheit zu sehen waren, zuversichtlich auf den Leib und warf ihnen drohende Blicke zu, forderte sie auf, ihn zu beleidigen! (…) Nichtsdestoweniger gestand er sich’s aber: ich will lieber mit Tigern und Leoparden zu schaffen haben, die doch mindestens durch ihr Gebrüll aufrichtig bezeugen, wes Geistes sie sind: lieber mit jenen Vierfüßlern, als mit diesen zweibeinigen, sprachlosen, hochzuverehrenden Herrschaften.                                                                                                         
Eine Seitentür öffnete sich. Zwei Herrschaften traten heraus, zum Hauptausgange geleitet von einem dritten, dem Schöpfer dieser kalten Welt, (…)                               
Der Holländer, fertig Französisch redend und lebendiger, als die meisten seiner Landsleute, begann ein recht interessantes Gespräch, das freilich zunächst den von ihm ausgearbeiteten Köpfen und Figuren galt, ihn dabei aber doch, durch nahe liegenden Bezug auf dieselben, wie einen künstlerisch und nicht unwissenschaftlich ausgebildeten Mann erscheinen ließ. ‚Was Sie hier sehen’, sagte er, ‚ist nur für die Menge berechnet, denn ich muß mich ernähren. Andere, bedeutendere Arbeiten verwahre ich in jenem Seitenkabinett, aus dem ich soeben mit den beiden Herrn trat. Darin verberge ich – denn verborgen müssen sie bleiben des lieben sittlichen Anstandes halber – die Erzeugnisse meiner Mußestunden. Nachbildungen teils verschiedener Naturmysterien, wie dieselben von Damen, Kindern – überhaupt öffentlich nicht ausgestellt werden dürfen. Den Ausdruck des Menschlichen zu treffen, insofern er dem Antlitz geistige Weihe gibt, gelingt Künstlern meiner Gattung nur unvollkommen. Wir wollen plastische Bildner sein und Maler, beides zugleich; deshalb sind wir streng genommen keines von beiden. Ich sehe das deutlich ein, bin darum auch unzufrieden mit dem, was hier prunkt und prangt. Aber meine kleinen Arbeiten da drin, in der heimlichen Kammer, darf ich vollkommen nennen in ihrer Weise. Sie maßen sich nicht an, Leidenschaften, Gefühle, Charaktere auszudrücken, sie bedürfen keiner Augen, die Feuer, keiner Mienen, die inneres Leben verlangen. Was durch Fleiß und Geschicklichkeit erreichbar ist, genügt für diese Arbeiten. Für den Augenblick befinde ich mich mit Vorzeigung derselben in peinlicher Verlegenheit. Ich kann dafür, als für eine nur im Stillen gegebene und geduldete Begünstigung, natürlich auch nur einen zuverlässigen, anständigen Diener gebrauchen, und einen solchen gelang es mir nicht aufzufinden, seitdem der vorige, den ich aus Holland mitnahm, nach unserer Heimat zurückgekehrt ist.’ “ (Ausgabe Halle/S. 1911, S.287ff)

Antoine findet Anstellung in Blämerts Wachsfigurenkabinett, genauer im erwähnten „Seitenkabinett“ desselben: 
„Das ist wahr, einzurichten versteht mein Herr seine Sachen. Unsere Bude sieht aus wie ein Schmuckkästchen von innen und außen. Mein heimliches Kabinett ist so niedlich, daß ich es fast zu schön finde für die unschönen Gegenstände, die es zum Teil einschließt. Herr Blämert ist zwar sehr stolz auf dieselben und gewissermaßen kann er es wohl sein; alle Kenner loben die vollendete Ausführung. Aber bei all dem kann ich die Scham noch nicht überwinden, daß ich so viele Sachen enthüllen muß, die besser verschleiert bleiben. 
Was es doch für Weiber gibt! Gestern bestanden ihrer zwei darauf, mit einer Herrengesellschaft zugleich die verbotenen Waren anzusehen. Na, mir konnte es recht sein! Aber wenn meine Geliebte oder meine Frau solches Äpfelgelüste zeigte, - ich gäbe ihr, glaub’ ich, den Laufpaß! 
Da lobe ich mir Frau Blämert. Die macht schon linksum, wenn sie nur in die Nähe der Tür gerät. Fast komme ich auf die Vermutung, sie wolle mir bloß deshalb übel, weil sie in mir den Hüter jener anstößigen Kleinodien erblickt.                                                           
Die Trinkgelder fließen übrigens reichlich ein.“ (ebenda, S.294f)