Samstag, 13. September 2008

„Electrissiti, Leben ja, lebendig alles ja!“


Jacques Libbera (1884-1946) konnte sein abnormes Erscheinungsbild erfolgreich vermarkten. 
(Souvenirkarte, Sammlung Nagel)

Nicht zufällig werden Wachsfigurenkabinette oftmals mit Gruselkabinetten gleichsetzt. Die lebensgroßen, häufig täuschen echt wirkenden Figuren üben in ihrer gleichsam „leblosen Lebendigkeit“ eine beunruhigende, schaurige Wirkung auf den Betrachter aus. Die Panoptikumsbetreiber setzten auf solche publikumswirksamen Wirkungen, das Panoptikum wandelte sich tatsächlich in vielen Fällen zu einer Art „Gruselkabinett“ mit Exponaten wie Folterwerkzeugen, Schrumpfköpfen, Mördern mit Original-Tatwerkzeugen, Spirituspräparaten, abschreckenden Moulagen, ausgestopften tierischen und wächsernen menschlichen Abnormitäten.
Es verwundert nicht, dass viele Vertreter der sogenannten „Phantastischen Literatur“ das Panoptikum für sich entdeckten. Ein herausragendes Beispiel dieses Genres ist Gustav Meyrinks Erzählung „Das Wachsfigurenkabinett“.
Die Erzählung belegt, dass Meyrink zahlreiche Inspirationen bei Besuchen in (Jahrmarkts-) Panoptiken erhalten hat. Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung der Fassadengestaltung einschließlich der mechanisch bewegten Fassadenfigur. Solche Automaten standen zu Reklamezwecken im Frontbereich vieler Wachsfigurenkabinette.
Im Inneren der Schaustellungen haben ihm offensichtlich kleine Panoramen, Schrumpfköpfe und wächserne Nachbildungen von Köpfen „exotischer“ Menschenrassen Anregungen für seine Erzählung gegeben. Auch das mit Hilfe des „Magnetismus“ erzeugte „Doppelgeschöpf“ scheint durch tatsächlich Gesehenes wie Spirituspräparate inspiriert. Vor allem erinnert es aber an eine besondere Art der Zwillingsmissbildung, die als menschliche Abnormität u.a. in stationären Panoptiken gezeigt wurde. Allerdings wies der parasitäre Zwilling hier keinen Kopf auf, i.d.R. handelte es sich um Gliedmaßen, allenfalls um einen verkümmerten (Unter-) Körper, die aus dem Brustkorb herausragten.

(…) Auf dem ungepflasterten Marktplatz stand der Zeltbau des Wachsfigurenkabinetts, und aus den hundert kleinen zackigen Spiegeln, die auf dem Leinwandgiebel in Rosettenschrift die Worte formten:                
                        Mohammed Daraschekohs orientalisches Panoptikum,                
                                 vorgeführt von Mr. Congo-Brown                                                                            
glitzerte rosa der letzte Widerschein des Abendhimmels.
Die Segeltuchwände des Zeltes, mit wilden aufregenden Szenen grell bemalt, schwankten leise und bauschten sich wie hautüberspannte Wangen aus, wenn im Innern jemand umherhantierte und sich an sie lehnte. Zwei Holzstufen führten zum Eingang empor und oben stand unter einem Glassturz die lebensgroße Wachsfigur eines Weibes in Flittertrikot.
Das fahle Gesicht mit den Glasaugen drehte sich langsam und sah in die Menge hinab, die sich um das Zelt drängte, -- von einem zum andern; blickte dann zur Seite, als erwarte es einen heimlichen Befehl von dem dunkelhäutigen Ägypter, der an der Kassa saß, und schnellte dann mit drei zitternden Rucken in den Nacken, daß das lange schwarze Haar flog, um nach einer Weile wieder zögernd zurückzukehren, trostlos vor sich hinzustarren und die Bewegungen von neuem zu beginnen. Von Zeit zu Zeit verdrehte die Figur plötzlich Arme und Beine wie unter einem heftigen Krampfe, warf hastig den Kopf zurück und beugte sich nach hinten, bis die Stirne die Fersen berührte.                                            
"Der Motor dort hält das Uhrwerk in Gang, das diese scheußlichen Verrenkungen bewirkt", sagte Sinclair halblaut und wies auf die blanke Maschine an der andern Seite des Eingangs, die, in Viertakt arbeitend, ein schlapfendes Geräusch erzeugte. ‚Electrissiti, Leben ja, lebendig alles ja", leierte der Ägypter oben und reichte einen bedruckten Zettel herunter. "In halb' Stunde Anfang ja.“ (…)
 Doch ich glaube, die Produktion beginnt. – Zündet nicht schon der Ägypter die Flammen rings um das Zelt an?"
Die Programmnummern "Fatme, die Perle des Orients" war vorüber und die Zuschauer strömten hin und her oder sahen durch die Gucklöcher an den mit rotem Tuch bespannten Wänden in ein roh bemaltes Panorama hinein, das die Erstürmung von Delhi darstellte.
Stumm standen andere vor einem Glassarg, in dem ein sterbender Turko lag, schweratmend, die entblößte Brust von einer Kanonenkugel durchschossen, – die Wundränder brandig und bläulich.
Wenn die Wachsfigur die bleifarbenen Augenlider aufschlug, drang das Knistern der Uhrfeder leise durch den Kasten, und manche legten das Ohr an die Glaswände, um es besser hören zu können.
Der Motor am Eingang schlapfte sein Tempo und trieb ein orgelähnliches Instrument.
Eine stolpernde, atemlose Musik spielte, – mit Klängen, die, laut und dumpf zugleich, etwas Sonderbares, Aufgeweichtes hatten, als tönten sie unter Wasser.
Geruch von Wachs und schwelenden Öllampen lag im Zelt. "Nr. 311 Obeah Wanga-Zauberschädel der Voudous", las Sinclair erklärend aus seinem Zettel und betrachtete mit Sebaldus in einer Ecke drei abgeschnittene Menschenköpfe, die unendlich wahrheitsgetreu – Mund und Augen weit aufgerissen – mit gräßlichem Ausdruck aus einem Wandkästchen starrten.
"Weißt du, daß sie gar nicht aus Wachs, sondern echt sind!" sagte Obereit erstaunt und zog eine Lupe hervor, – "ich begreife nur nicht, wie sie präpariert sein mögen. – Merkwürdig, die ganze Schnittfläche der Hälse ist mit Haut bedeckt oder überwachsen. – Und ich kann keine Naht entdecken! – Es sieht förmlich so aus, als wären sie wie Kürbisse frei gewachsen und hätten niemals auf menschlichen Schultern gesessen. – – Wenn man nur die Glasdeckel ein wenig aufheben könnte!"
"Alles Wachs, ja, lebendig Wachs, ja, Leichenkopf zu teuer und riechen – – phi –", sagte plötzlich hinter ihnen der Ägypter. Er hatte sich in ihre Nähe geschlichen, ohne daß sie ihn bemerkt hatten; und sein Gesicht zuckte, als unterdrücke er ein tolles Lachen. (…)
Einen Augenblick hörte die Musik auf zu spielen, jemand schlug auf einen Gong, und hinter einem Vorhang rief eine gellende Frauenstimme:
"Vayu und Dhanándschaya, magnetische Zwillinge, 8 Jahre alt, – das größte Weltwunder. – Ssie ssingen!"
Die Menge drängte sich an das Podium, das im Hintergrunde des Zeltes stand. (...)
"Vayu und Dhanándschaya – – ssie ssingen" – kreischte die Stimme wieder.
Der Vorhang schob sich zur Seite und, als Page gekleidet, ein Bündel im Arm, trat auf das Podium mit wankenden Schritten ein Geschöpf von grauenhaftem Aussehen.
Die lebendig gewordene Leiche eines Ertrunkenen in bunten Samtlappen und goldenen Tressen.
Eine Welle des Abscheus ging durch die Menge.
Das Wesen war von der Größe eines Erwachsenen, hatte aber die Züge eines Kindes, Gesicht, Arme, Beine, – der ganze Körper – selbst die Finger waren in unerklärlicher Weise aufgedunsen.
Aufgeblasen, wie dünner Kautschuk, schien das ganze Geschöpf.
Die Haut der Lippen und Hände farblos, fast durchscheinend, als wären sie mit Luft oder Wasser gefüllt, und die Augen erloschen und ohne Zeichen von Verständnis.
Ratlos starrten sie umher.
"Vayu, där gressere Brudär", sagte erklärend die Frauenstimme in einem fremdartigen Dialekt; und hinter dem Vorhang, eine Geige in der Hand, trat ein Weibsbild hervor im Kostüm einer Tierbändigerin mit pelzverbrämten, roten polnischen Stiefeln.
"Vayu", sagte die Person nochmals und deutete mit dem Geigenbogen auf das Kind. Dann klappte sie ein Heft auf und las laut vor:
"Diese beiden männlichen Kindär ssind nunmehr 8 Jahre alt und das greßte Weltwunder. Sie ssind nur durch eine Nabelschnur verbunden, die 3 Ellen lang und ganz durchsichtig ist, und wenn man den einen abschneidet, mißte auch der andere sterben. Es ist das Erstaunen aller Gelehrten. Vayu, er ist weit über sein Alter. Entwickelt. Aber geistig zurückgeblieben, während Dhanándschaya von durchdringende Verstandesschärfe ist, aber so klein. Wie ein Säugling. Denn er ist ohne Haut geboren und kann nichts wachsen. Er muß aufgehoben werden in einer Tierblase mit warmem Schwammwassser. Ihre Eltern sind immer unbekannt gewesen. Es ist das greßte Naturspiel."
Sie gab Vayu ein Zeichen, worauf dieser zögernd das Bündel in seinem Arm öffnete.
Ein faustgroßer Kopf mit stechenden Augen kam zum Vorschein.
Ein Gesicht, von einem bläulichen Adlernetz überzogen, ein Säuglingsgesicht, doch greisenhaft in den Mienen und mit einem Ausdruck, so tückisch haßverzerrt und boshaft und voll so unbeschreiblicher Lasterhaftigkeit, daß die Zuschauer unwillkürlich zurückfuhren.
"Me–me–mein Bruder D– – D–Dhanándschaya", stammelte das aufgedunsene Geschöpf und sah wieder ratlos ins Publikum.
"Führen Sie mich hinaus, ich glaube, ich werde – ohnmächtig – Gott im Himmel", flüsterte Melchior Kreuzer. Sie geleiteten den Halbbewußtlosen langsam durch das Zelt an den lauernden Blicken des Ägypters vorbei.
Das Weibsbild hatte die Geige angesetzt, und sie hörten noch, wie sie ein Lied fiedelte und der Gedunsene mit halb erloschener Stimme dazu sang:
"Ich att einen Ka–mee–la–den 
ei–nen – bee–seln finx du nit."
Und der Säugling – unfähig die Worte zu artikulieren – gellte mit schneidenden Tönen bloß die Vokale dazwischen:
"Iiii ha–ejheeh – hahehaa – he 
eiije – hee – e jiii hu ji."
Dr. Kreuzer stützte sich auf Sinclairs Arm und atmete heftig die frische Luft ein.
Aus dem Zelte hörte man das Klatschen der Zuschauer. (…)
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Gustav Meyrink: Des deutschen Spießers Wunderhorn. München, Leipzig 1948, S.100-106