Donnerstag, 21. Dezember 2023

Die Ballade vom Panoptikum

 

Am Panoptikum, wo die Verdorbenen
sich drängen an Läden und Fenstern,
Da sieht man die großen Verstorbenen
Am hell-lichten Tage gespenstern!
Der Mann ohne Kopf und ein Kopf ohne Kind,
Die Riesen- und Zwerg-Raritäten
Und Zieten mit dem Zopf und Moritz von Schwind
Und die anderen Celebritäten,
Bestaunt vom ganzen Publikum!
Und ihre Seelen gehen um
Und finden keine Ruh da!
Hallelujah! Hallelujah!
So harren sie des jüngsten Tags
Aus Wachs
    pax vobiscum!
Im Berliner Passage-Panoptikum!
        Im Berliner Passage-Panoptikum!

Die Gestorbenen kommen ins Paradies
Und Frommen nach Weißensee raus!
Im Panoptikum halten nur die Genies
Den ewig unsterblichen Kehraus!
Die Anarchisten und die Herr'n aus dem Tron,
Das Volk der Denker und Dichter
Für 30 Pfennig im Grammophon
Weiß-sagen sie aus dem Trichter!
Bestaunt vom ganzen Publikum!
Und ihre Seelen gehen um
Und finden keine Ruh da!
Hallelujah! Hallelujah!
So harren sie des jüngsten Tags
Aus Wachs
    pax vobiscum!
Im Berliner Passage-Panoptikum!
        Im Berliner Passage-Panoptikum!

Am Panoptikum brüllt man die neusten Arznein,
An denen wir alle genesen!
Und Tausende stürmen zu den Partein
Gräubig an Wunderprothesen!
Die Volksbeglückung kriegt einen Knax
Mitten im Katzenjammer,
Und wir stehn alle eines Tags
In einer Schreckenskammer,
Bestaunt vom ganzen Publikum
Und unsre Seelen gehen da um
Und finden keine Ruh da!
Hallelujah! Hallelujah!
So harren wir des jüngsten Tags
Aus Wachs
    pax vobiscum!
Im Berliner Passage-Panoptikum!
        Im Berliner Passage-Panopticum!"

Walter Mehring im Programmheft des Kabaretts "Schall und Rauch" vom Februar 1921